Warum spricht viel für – und was wäre – auxiliäre Digitalität? Zwischen genuin geisteswissenschaftlicher digitaler Pragmatik und einer Wissenschaftsphilosophie digitaler Verfahren

Petra Gehring

Der sogenannte digitale Wandel ist ein noch weitgehend unverstandenes Phänomen. Dies liegt an seiner Plastizität und der Geschwindigkeit, mit der sich sein phänotypisches Erscheinungsbild verändert (a.). Es liegt aber auch an grundbegrifflichen Schwierigkeiten, denen sich auch die Philosophie nur in Teilen stellt (b.).

Das hindert uns als Werktätige unseres Faches natürlich nicht daran, Digitalität als gegenwartsrelevant und zukunftsträchtig zu begreifen: Ich kann das Digitale reizvoll finden oder abstoßend, ich kann dem Wandel Beschreibungsarbeit widmen, ich kann das Digitale gleichsam ausschnitthaft zu durchdenken suchen, ich kann es auch zunächst einfach achselzuckend hinnehmen und in mein Alltag integrieren. Unter jedem dieser Vorzeichen laden digitale Werkzeuge zum Experimentieren ein. Allerdings halte ich es (c.) für unbefriedigend, im Feld der Geisteswissenschaften ein durch digitale Dienste gestütztes Forschen, wie es sich unter dem Titel DH (Digital Humanities) etabliert und auch rasch gewisse avantgardistische Signale ausgesandt hat, einfach nur zu adaptieren. Zu allen drei Punkten – dem Wandel, den Grundbegriffen und der Frage der Forschungspragmatik – nachfolgend einige Überlegungen. Forschungspragmatisch plädiere ich für eine genuin auf die geisteswissenschaftlichen Methodologien zugeschnittene, auxiliäre Rolle von Digitalität. Zugleich denke ich: wir benötigen dringend eine Wissenschaftsphilosophie digitaler Verfahren. Und auch hierfür sollte die Handhabung existierender digitaler Dienste eine Hilfe darstellen. Denn letztlich wird es darum gehen, dass die Philosophie DH-Methoden nicht etwa bloß nutzt, sondern dass sie ihre genuinen, aufs Fach zugeschnittenen Forderungen an deren Ausgestaltung stellen kann.

a. Digitalität ist wesentlich dazu da, für maschinelle Systeme Maschinensprachen ins Werk zu setzen, sie wird also wirklich durch Technizität. Sogenannte Digitaltechnologien sind von daher zwar einerseits generisch (schon zweiwertige Strichcodes „digitalisieren“), andererseits aber sind Digitaltechniken Meta-Technologien, die auf eine lange und komplexe Technikevolution aufsetzen – was sich dann auch in den „Gesichtern“ abbildet, die Digitalität hat. Tatsächlich haben wir das Digitalzeitalter ja unter dem Eindruck ganz verschiedener Paradigmen erlebt, und diese wechseln auch verblüffend schnell. Nachdem es in der Mitte des 20. Jahrhunderts ums Rechnen ging – mit dem parallel prozessierenden Computer als Rechenmaschine –, mutierten die Rechner zur „IuK“, zur Informations- und Kommunikations­technologie. Digitalität war nun telemedial bzw. eine neue Medientechnologie und auch in der Theorie entdeckte man sie – Bilder und Audiovisuelles einschließlich – als „Medium“. In schneller Folge haben wir seither Digitalität als ubiquitäres „Netz“ oder auch Netz von Netzen, als Durcheinander von Codes, Algorithmen und Sensoren, als Kunst der Datenanalytik und der Simulation auf massiven Datenmengen, als eher pröbelnde, womöglich irgendwie „neuronale“ Kapazität, als digitales „Token“, nämlich Wertzeichen (nicht nur auf der Blockchain) – und zuletzt als plappernder Chatbot, hinterlegt mit einer derart gigantischen Menge an Performanzen, dass man quasi mit einem Archiv aus „Welt-Wissen“ interagiert.

Rein phänotypisch rennt unser Digitalitätsbild folglich den plastischen Innovationen und Produktlinien der Technologiemärkte hinterher. Und so bleiben unsere Evidenzen dessen, worüber wir überhaupt reden sollen, wenn es ums Digitale geht, summativ: Zu den großen und kleinen Elektronengehirnen kommen das Reich des Virtuellen und der Immersion, das weltweite Netz, eine multiple Überfülle in „Datenräumen“ aufgehobener digitaler Artefakte, immer neue Schnittstellen zum Menschen – und dazu sehr, sehr viele Black Box-Effekte, also faktisch Undurchschautes oder sogar Undurchschaubares als neue zweite Natur.

b. Ob „Information“ – also eine Art Quasi-Materialität von signalhaften Zeichen, von welchen wir uns vorstellen, dass auf ihnen (vergleichbar zellularen oder intrazellularen Lebensprozessen) Maschine-Maschine-Semantiken beruhen – wirklich der Grundbegriff ist, der den Schlüssel zum Digitalzeitalter liefert? Man wird das bezweifeln. Heute bringen wir Maschine-Maschine-Prozesse eher mit Konzepten wie „Formalisierung“ (die mathematische Fassung basaler Technizität), Kalkülisierung (eine schriftbasierte Form der Automatisierung), „Algorithmus“ (ein Nachfahre der Kalkülisierung), „Code“ (die generischen Kunstsprachen, mittels welcher man mit Maschinen interagiert) oder aber mit den nicht nur durch die Sensorik zum Grundbegriff gewordenen „Daten“ oder dem heraufdämmernden neuen Universal-Stichwort der „Infrastrukturen“ in Verbindung.

„Digitalisierung“ selbst, also die Rückübersetzung einer komplizierteren Syntax in einfache (auf der tiefsten Ebene binäre) Schaltungen oder auch die an das ausführende Gerät gemahnende „Computing“ wirken irgendwie übergreifender, lassen sich jedoch auf die jeweils anderen Konzepte nur schlecht beziehen. Von kann uns derzeit weder die Technikphilosophie noch die Wissenschaftsforschung noch auch die Methodenbegrifflichkeit der digital arbeitenden Disziplinen grundbegrifflich gefestigte Perspektiven für ein Verständnis des Digitalen bieten. Die Folge? Man blickt rückwärts. In der bibliotheksnahen DH-Szene behilft man sich mit dem Dreischritt von „Daten – Information – Wissen“, in der forschenden DH-Szene spricht man gar von „Empirie“ oder von „Quantifizierung“. Was es auch gibt: Man kultiviert eine Art gefühlten Power-User-Jargon, spricht also von „Tools“ und nennt Programmpakete bei ihrem Eigennamen. Das Verständnis der Digitalität bringt dies nicht voran. Es hat aber auch erst wenig mit einem fachlich satisfaktionsfähigen Methodendiskurs für digitale Geisteswissenschaften zu tun.

c. Damit bin ich bei der Frage nach den geisteswissenschaftlich zuträglichen digitalen Forschungspragmatiken, zu denen uns eine Wissenschaftsphilosophie digitaler Verfahren – als Verfahren für die Philosophie – jedoch noch fehlt. Denn was wäre etwa „digitale Hermeneutik“? „digitale Ideologiekritik“? „digitaler Strukturalismus“? Oder was würde auch nur eine „digitale Heuristik“ oder eine „digitale Quellenkritik“ für die philosophische oder philosophiehistorische Forschung sein?

Mir scheint es wichtig, zunächst mit hinreichendem Selbstbewusstsein diese Fragen tatsächlich zu stellen. Man merkt dann, wie weit der Weg vom Tool bis zur Forschungsfrage ist und dass man ihn auch besser in die andere Richtung geht, nämlich von der Frage und der Methodologie herkommend zu den Anforderungen an eventuelle Tools. Mehr noch: Weder ist die historisch-hermeneutische Forschung rückständig, wenn sie über digitale Verfahren erst nachdenkt, bevor sie diese nutzt. Noch ist überhaupt gesagt, dass dasjenige auf dem Arbeitstisch von Forscherinnen und Forschern, die sich in theoretischer Absicht in der hoch spezifischen, intertextuell vielfältigen Theoriebildung tummeln, überhaupt von Belang ist, was – sagen wir: die Geoforschung, die soziologische Netzwerkanalyse (ein freilich hinsichtlich ihrer Modellbildung notorisch verworrenes, übers Illustrative kaum hinauskommendes Gebiet) oder was auch die Linguistik an digitalen Werkzeugen interessant findet. Analysen, die Fächern, die Texte als Beutel voller Token oder Terme betrachten, interessante Statistiken liefern, werden für die im engen Sinne lektürebasierte Arbeit zunächst einmal den Gebrauchswert eines Briefbeschwerers haben. Ebenso ist der Grenznutzen digitaler Editionen unter dem Gesichtspunkt dialogisch lesender, nur punktuell philologisch sich verzweigender Arbeit schnell erreicht. Nach allem, was ich höre, sind die Nutzungszahlen digitaler Hochleistungseditionen vom Typus „großer Klassiker“ miserabel. Das kann nicht nur an der Rückständigkeit der Fachgemeinschaft liegen, sondern deutet auf ein Mismatch zwischen digitaler Editionsphilologie und den intellektuellen Arbeitsbedarfen und also wohl auch Methodiken von Philosophinnen und Philosophen hin.

Man sollte sicher aber auch umgekehrt einräumen, dass es an expliziten, die Werkzeuge in die methodische Arbeit integrierende und diese bezüglich der Forschungsfrage auch als ertragreich ausweisenden Methodologien fehlt. Und ein Grund hierfür sind sicher die unter (a.) und (b.) angedeuteten Schwierigkeiten, denn ich vermute, diese stehen der philosophischen Arbeit und auch dem Gespräch zwischen Philosophie und DH in besonderer Weise im Weg.

Denn was prägt(e) DH? Sicherlich nicht ein philosophisch anschlussfähiger Methodendiskurs. Etwas überstürzt – und ohne Kontakt mit so etwas wie einer Wissenschaftsphilosophie der Geisteswissenschaften, die sich auch erst hätte bilden müssen – hat vielmehr die Textforschung den digitalen Wandel zunächst zu einem revolutionären Medienbruch erklärt (kein „print“ mehr, dafür Multimedia und das klickbare Verknüpfen) und dann zu einem revolutionären Methodenbruch (maschinelles Auswerten und die schon erwähnte Quantifizierung, ebenso Visualisierung). Nach einem computational turn der Textwissenschaften, der eher das Edieren betraf, einer zweiten, algorithmisch-analytischen Welle, in der das Auswerten von Datenmengen das Beforschen von „born digital“-Phänomenen zählte, rollen nun bereits „third waves“, die sich beispielsweise auf die reflexive Frage nach computationality als generelle Kondition für Wissen, Intellektualität und vielleicht sogar Menschsein stürzen. Mit nächsten Avantgarden ist zu rechnen. Derzeit sind Generative Text-KI und die Kollaboration mit dem Chatbot, das Prompten, in aller Munde. Bald wird eine Maschinenphilologie ›Texte‹ beforschen, wie sie nur auf dem Wege einer autonomen Interaktion zwischen Computern entstehen.

Ich möchte demgegenüber die digitale Durchdringung gerade der komplexen Forschungsprozesse der Geisteswissenschaften nicht von den neuen Gerätegenerationen her denken, und ich rate auch dem Wettlauf um immer avancierter Tools zu widerstehen. Forschung kann jedenfalls nicht heißen, Test-Nutzer für zu fachfernen Zwecken entwickelte Software zu sein.

Statt der überstürzten Adaption von algorithmischen Verfahren durch einen im Hinblick auf echte Forschungsfragen planlosen Avantgardismus möchte ich daher klar für eine hilfwissenschaftliche, also eine „auxiliäre“ Funktion digitaler Forschungswerkzeuge in den Geisteswissenschaften plädieren. Fast immer geht es am teils analogen, teils digitalen Schreibtisch sowieso um die Kombination sehr vieler verschiedener Verfahren. Und hier kommt nach meiner Erfahrung vermeintlich unspektakulärer digitaler Optionen eine Schlüsselrolle zu, um Theoriearbeit besser zu machen – und zwar ohne methodologisch völliges Neuland zu betreten. Denn ums „Bessere“ im Sinne eines Abgleichs mit dem, was bisher schon möglich war, muss es ja gehen: Wir brauchen primär Möglichkeiten, gegebene methodologischen Ansprüche besser, schneller, genauer, umfassender zu erfüllen – und nicht etwa eine ganz neue Methodologie. Oder gar ein neues Fach.

Zum Abschluss sollte ich Beispiele nennen. Ich nenne drei. Erstens halte ich generische Such- und Recherchewerkzeuge, die das Cross-Over-Lesen und das Finden aller möglicher Quellen unterstützen für wichtiger als plattformgebundene Zugriffe auf spezialistisch erschlossene Datenbestände, insbesondere Datenbestände zu nur einem Autor. Leider sind Kataloge und Verzeichnisse im Web immer noch in einem beklagenswerten Zustand (und auch dort, wo DH-Projekte unterwegs sind, scheint man ganz auf kommerzielle Suchmaschinen zu setzen anstatt eine Art wissenschaftsweite Findbarkeits-Infrastruktur zu entwickeln). Möglicherweise bedarf es gar keiner im engeren Sinne philosophischer Werkzeuge, aber als Philosophin kann ich besser arbeiten, wenn ich schneller, breiter und ins Entlegene hinein besser (und idealerweise ohne Tracking) recherchieren kann. Dabei will ich meiner eigenen Pragmatik – soll heißen: Weder benötige ich eine alles integrierende „Arbeitsumgebung“ noch die unerträglichen Wortwolken des Topic Modeling noch eine mir Textinhalte zusammenfassende KI-Assistenz.

Zweitens sehe ich in der niedrigschwelligen Verfügbarkeit von digitalen Audiomaterialien – Aufnahmen wie Versand- und Abspielmöglichkeiten und auch Schnitt, einschließlich Transkription und sogar automatisierte Übersetzung – für ein auf „verbale“ Praktiken, also aufs Miteinanderreden zugeschnittenes Fach wie die Philosophie für ein Arbeitsmittel, aus dem man viel mehr machen könnte als dies aktuell üblich ist. Sowohl die Alleinarbeit als auch vor allem Gespräche – bis hinein in zwangloses Fachsimpeln – lassen bzw. ließen sich mühelos dokumentieren, ohne dass wir davon bislang wirklich Gebrauch machen. DH für die Philosophie: hier könnten Audiomedien neue Ressourcen schaffen, aber auch neuen Ernst. Es zählt das gesprochene Wort. Vielleicht verschaffte uns die digitale Dokumentierbarkeit gar eine neue Kultur der Oralität?

Drittens halte ich es für vielversprechend, Werkzeuge der digitalen Koproduktion fortzuentwickeln, und dies über Produkte vom Typ „Google-Docs“ oder aber Publikationsplattformen hinaus. Dass inzwischen Videoconferencing rund um den Globus möglich ist, bedeutet auch für Philosophinnen und Philosophen einen echten Gewinn. Was braucht digitale Ko-Autorschaft aber noch alles? Etwa die Möglichkeit, sich gemeinsam in virtuellen Bibliotheken aufzuhalten, oder vielleicht überhaupt die Möglichkeit, sich von der individuellen Identifizierungspflicht im Netz zu lösen, um stattdessen als Kollektiv zu produzieren? Und sollte nicht auch Überwachbarkeit zurückgewiesen werden? Tatsächlich träume ich davon, sowohl Software, die überwacht (die meisten VC-Systeme gehören leider dazu), als auch Autorenidentifikationssysteme wie ORCID und ebenso die Instrumente individualisierender Leistungszumessung – kurz: alles Tracking, dem Forschung ausgesetzt ist – sollte zugunsten einer freien Formlosigkeit der Theorieproduktion unterlaufen werden können. Auch eine solche Frage wäre also für mich eine spezifische Anforderung an eine der Philosophie gemäße DH-Kultur: Wie unterlaufen wir die für den Kern unseres Tuns unwichtigen, dieses vielleicht sogar störenden, in der digitalen Welt standardmäßig jedoch geltenden Pflichten zur Personalisierung jeder Aktivität als „Leistung“. Oder, anders gesagt: eine Wissenschaftsphilosophie digitaler Verfahren sollte auch in digitalen Räumen – als stünde Sokrates nach wie vor, schlau, aber eben prekär, auf dem Marktplatz herum – nicht nur der Effizienzsteigerung von Arbeitsschritten dienen (sowie hinter den Tools die Methoden als das Entscheidende ansehen), sondern stets auch aufmerksam die Machtfrage stellen.

Hat (c.), also die Rückbesinnung auf Erwartungen an eine im guten Wortsinn auxiliäre Digitalität, mit (a.), dem noch ausstehenden Verständnis des digitalen Wandels, und (b.) der Arbeit an Grundbegriffen etwas zu tun? Ich denke ja. Denn was wir brauchen, anstelle der oft beschworenen, aber missverständlichen Forderung nach Interdisziplinarität auf Augenhöhe – derzufolge es hilfswissenschaftliche Aufgaben gar nicht mehr gäbe –, ist in erster Linie eine neue Reflexionsbereitschaft und Verständigung rund ums Digitale innerhalb der Philosophie selbst. Wir müssen lernen, uns zwischen genuin geisteswissenschaftlicher digitaler Pragmatik und einer Wissenschaftsphilosophie digitaler Verfahren zu einer Diskussionen tragenden Begriffswelt, zu zeitgemäßen Methodendiskursen und zu eigenen Forderungen zu finden.